Direkt zum Seiteninhalt

Toxic Gaming

Lesezeit: Minuten
Vor zwei Jahren sorgt eine ungewöhnliche April-Aktion auf der Internetplattorm „Reddit“ für Aufsehen: In der Kategorie „r/games“, wo sich normalerweise Spielwütige austauschen, legt das Moderationsteam die Arbeit nieder.

Sie klagen: „die herabwürdigenden, herablassenden, rachsüchtigen und pessimistischen Haltungen, die wir in unserer täglichen Arbeit sehen, sind beunruhigend…“ Ein Aprilscherz ist dies nicht. Das Moderationsteam hat genug von „Transphobie, Homophobie, Islamophobie, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Pro-Pädophilie/Pro-Vergewaltigung s-Äußerungen und bissige persönliche Angriffe gegen Andere.“

Vergiftete Kultur und geschlossene Gemeinschaften

Über eine „Toxic Video Game Culture“ und dem daraus resultierenden Widerwillen, sich als Gamerin (oder Gamer) zu bezeichnen, auch wenn man gern spielt, schreibt die Bloggerin und Forscherin Anne Ladyem McDivitt . Studien geben ihr recht: nur 10 Prozent der Videospiel-Spielenden in den USA fühlen sich als „Gamer“, besonders Frauen tun sich schwer damit.

Das Problem ist auch aus der ESport game-Community bekannt: „Jung und toxic – So frech waren Esport-Stars“ titelt ein Esport-Portal beinahe bewundernd und der Umgang mit dem Problem klingt darin an: Spielende und die Branche selbst rechtfertigen sich häufig damit, dass „trash talk“ zum Spiel dazugehöre und eben auch nur eine Spielart der Sprache sei.

Fast 50 Prozent der Deutschen spielen Video- und Computerspiele. Aber so unterschiedlich die Spiele sind, so unterschiedlich sind auch die Spielenden. Die Mehrheit will einfach nur spielen, eine Minderheit hat Spaß am Spielverderben und Spalten. Mit rassistischen oder sexistischen Beleidigungen, sexuellem Missbrauch, Trolling, Stalking oder extremistischen Manipulationen vergiften sie Spielgemeinschaften und wirken zersetzend bis in die Gesellschaft hinein. Der Begriff „toxic“ (englisch giftig) beschreibt dieses zersetzende und sozial unangemessene Verhalten in Online-Communitys.

Was befördert toxisches Benehmen?

  • Wettbewerb und Konkurrenzkampf. Zahlreiche Online-Spiele sind so aufgebaut, dass sie Siegen und Gewinnen in den Vordergrund stellen. Spaß scheint nur auf der Gewinnerseite zu entstehen.
  • Anonymität. Die Verwendung von Spitznamen, unmoderierte Chats und unkontrollierter Zugang zu einigen Chats stärken das Gefühl, die Äußerungen während der Online-Spiele hätten keine Konsequenzen.
  • Kontrafaktisches Denken. Passiert etwas Unerwünschtes, neigen viele Menschen zu diesem psychologischen Phänomen und stellen sich ein alternativ-Ereignis vor: „Hätte die oder der dies oder jenes gemacht, würde ich jetzt gewinnen.“
  • Negative soziale Kultur. In einer sozialen Umgebung, in der es wenig Einfühlungsvermögen gibt, in der über Beleidigungen oder Diskriminierungen geschwiegen und andere Lebens- und Denkweisen nicht respektiert werden, ist es eine Frage der Zeit, bis sich die schwierige Umgebung in schwierigem Verhalten widerspiegelt.

Das interaktive Moment im Spiel und im Austausch mit anderen schafft schnell ein Gemeinschaftsgefühl. In einer US-amerikanischen Studie berichten 88 Prozent der Online-Multiplayer von positiven sozialen Erfahrungen. Man hilft sich (50 Prozent), freundet sich an (51 Prozent), nicht selten entstehen daraus sogar Partnerschaften. Doch rund drei Viertel der Spielenden (74 Prozent) haben schon einmal Störungen erlebt, 65 Prozent erfuhren schwere Belästigungen, bei 29 Prozent kam es zu Doxing. Negative Emotionen werden ungefilterter eingespeist – einen Eindruck erhält man in der Sammlung http://fatuglyorslutty.com. Vom Flaming, über Mobbing bis hin zu gezielten Rufmordkampagnen kann sich ein schlechtes Gefühl im Internet schnell zu unerbittlichem Hass hochschaukeln. Die Vermischung von privater Enttäuschung, Verleumdung und rechten Verschwörungstheorien hat 2014 mit Gamergate eine gefährliche Tragweite erreicht.

Von Cybergrooming sind bereits Grundschulkinder betroffen. Täterinnen und Täter ködern die Kinder häufig mit Versprechen. Um beispielsweise in eine Spielgemeinschaft aufgenommen zu werden oder um virtuelle Outfits und Ausrüstung für Avatare spendiert zu bekommen müssen die Kinder dann sexualisierte Fotos schicken .

Unter Cybermobbing oder Cyberbullying ist Beleidigung, Bedrohung, Bloßstellung oder Belästigung von Personen mittels Kommunikationsmedien, wie Smartphones, E-Mails, Websites, Foren, Chats und Spiele-Communities gemeint.
Extreme Sprache und extreme Gesinnung

Radikalisierungen entwickeln sich schleichend und wer junge Menschen für radikale Ideen rekrutiert, weiß, wo diese zu finden und wie sie zu gewinnen sind. Gern verbergen rechtsradikale Gruppierungen ihre Ideologien hinter schwarzem Humor oder Ironie. So können sie sich einerseits herauswinden („war ja nur Spaß“) und andererseits ihre Zielobjekte sukzessive abstumpfen. „Lustige“ Memes, die man austauscht, lassen sich dazu besonders gut verwenden. Radikale Ansichten werden damit verniedlicht und verharmlost.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Spielbegeisterten selbst. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie inzwischen sehr misstrauisch sind, mit wem sie sich beim Spielen einlassen. Besonders Spielerinnen sind vorsichtig: sie benutzen keinen Voice-Chat und ändern ihren Benutzernamen, so dass sie nicht als Frau zu erkennen sind. Rund ein Viertel der Spielenden meiden bestimmte Spiele nach schlechten Erfahrungen und 62 Prozent wünschen sich, dass die Spielindustrie etwas dagegen unternimmt. Online-Interventionsprogramme zur Deradikalisierung wie sie Offline zu finden sind, gibt es bisher nicht.

Kinder und Jugendliche für versteckte, rassistische, radikale oder rechtsextreme Positionen zu sensibilisieren, ist sicher ein erster Schritt. Gemeinsam Taktiken zu überlegen, wie man fiesen Witzen oder Flaming geschickt begegnet, ohne sich an Ausfällen zu beteiligen, ist ein weiterer Schritt. Im Rahmen der GameLab Werkstatt „Flames in Games – ein Tutorial zum Umgang mit Toxic Playern“ haben Jugendliche ihre Vorschläge in einem Video veröffentlicht . Das Problem einer vergifteten Spielatmosphäre hat inzwischen auch einige Spieleunternehmen hellhörig gemacht. Electronic Arts überlegt einen „Spielerat“ zu gründen, Riot Games experimentiert bei dem Spiel League of Legends mit dem Belohnen von positivem Verhalten. Das beharrliche Melden von Belästigung bei den Spielefirmen ist auch eine Möglichkeit. Oder eben an anderer Stelle das Schweigen zu brechen.

Worauf können Eltern achten?

  • Ebenso wie Eltern sich im realen Leben mit der sozialen Umgebung ihrer Kinder auseinandersetzen, sollten sie sich auch in der virtuellen Welt fragen, mit wem ihr Kind spielt. In Computerspielen und den damit verbundenen Kommunikationsplattformen ist nicht erkennbar, wie alt die Personen sind, mit denen das Kind Kontakt hat. Das Einrichten eines eigenen Servers schränkt den Kreis der Mitspielenden ein. Ebenso sinnvoll wären Game-Server in Schulen.
  • Das Kind in die neue, virtuelle Welt zu begleiten, Spielverläufe und Spiele gemeinsam anzuschauen, gehört zu den Aufgaben von Erziehungsberechtigten, auch wenn diese selbst nie Computerspiele gespielt haben. Eltern sollten wissen, wie die Chats funktionieren, wie Personen blockiert oder die Chatfunktion teilweise oder komplett ausgeschaltet werden kann.
  • Zur Medienerziehung gehört, Kindern zu vermitteln, niemals persönliche Daten preiszugeben. Keine Whatsapp- oder Emailadressen, keine persönlichen Daten, wie Name oder Alter und erst recht keine Fotos. Die Kinder sollten früh eine kritische und hinterfragende Grundhaltung entwickeln. Vor allem sollten sie lernen, „Nein“ zu sagen.
  • Offenheit und Gesprächsbereitschaft sind wichtige Komponenten für eine gelingende Medienerziehung. Spielverbote als Strafen sind hingegen problematisch und führen eher dazu, dass Kinder heimlich spielen und dann Schwierigkeiten in Spielgemeinschaften oder Chats verheimlichen.
Das Reddit-Moderationsteam entlässt seine Abonnentinnen und Abonnenten mit den beschwörenden Worten: „Unsere unterschiedlichen Erfahrungen machen die Vielfalt der Inhalte aus, die wir konsumieren, und indem wir uns erlauben, diese Unterschiede zu schätzen, verändern wir unsere Perspektiven und Interpretationen; das gilt nicht nur für Spiele, sondern für das Leben als Ganzes.“

Weiterlesen im Dossier „Gaming“

Neuigkeiten

News
21.10.2024
Digitale Bildung: Wie KI den Schulalltag verändert
Digitalisierung in Deutschen Schulen kommt voran, Lehrkräfte sehen Chancen und Risiken...
16.10.2024
Prävention im digitalen Raum: Online-Event zum Schutz von Kindern vor Missbrauch
Mehrere Anbieter laden am Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller...